Helden

Meine Stunde hat schon vor zwei Minuten angefangen, als ich das Schultor erreiche. Wie wahrscheinlich jede französische Grundschule ist auch diese hermetisch abgeriegelt, Terrorgefahr. Die Besonderheit hier ist aber, dass die Direktorin in ihrer Tripple-Funktion auch gleichzeitig Pförtnerin und Sekretärin ist. Mit anderen Worten gibt es absolut niemanden, der die Klingel hören könnte, weil sie sich gerade im Unterricht befindet. Ich betätige sie trotzdem immer wieder, weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll. Die Telefonnummer, auf die neben der Klingel hingewiesen wird erfüllt ihren Zweck auch nur, wenn sich die Schulleiterin im Büro befindet.
Durch die Gitterstäbe sehe ich immer wieder Schüler zur Toilette und zurück laufen, die mich aber keines Blickes würdigen. Ich verübele es ihnen nicht, hier stehen wahrscheinlich nur Perverse, Helikoptereltern oder eben vor Schweiß triefende Sprachassistenten, die eine außergewöhnlich hässliche Tasche in den Farben der deutschen Flagge tragen.
Irgendwann erbarmt sich doch ein Mädchen, das so zart ist, dass es jede Sekunde vom Wind umgeblasen werden könnte aber eine Miene trägt, die der Chefin eines DAX-Konzerns gehören könnte und verspricht mir, dass sie Madame aus der Cantine holen werde. Als ich knapp 20 Minuten zu spät im Klassenraum erscheine und mir gerade eine Entschuldigung zurechtlegen will, meint der Lehrer bloß t’inquiète pas und stellt mich vor. Er trägt ein sehr enges Polohemd, ein breites Lächeln und keinerlei Haare auf dem Kopf.
Als er beschließt, dass jetzt Récréation ist, nimmt er mich mit hinter die Schule. Während ich mich noch frage, was genau wir hier machen, bietet er mir schon eine Zigarette an, die er gerade in Windeseile gedreht hat. Filterlos. Er sagt, er kommt aus Paris und falls er zu schnell spreche, soll ich einfach Bescheid geben. Bevor ich antworten kann legt er auch schon los. In dieser Hafenstadt, in der wir arbeiten sei die Situation besonders. Viele Kinder hier hätte familiäre Probleme, wenn man überhaupt noch von „Familien“ sprechen könnte. Es sei hier keine Ausnahme, nicht mit seinen Eltern zu wohnen, sondern irgendwelchen Onkels oder Großeltern, oder sich mehr oder weniger ganz allein um die jüngeren Geschwister zu kümmern, weil die „Erwachsenen“ zu sehr mit ihren Alkohol- oder Aggressionsproblemen beschäftigt seien. Plötzlich ergibt es einen Sinn, dass die Schüler, als ich gestern am Collège das Thema „Familie“ eingeführt habe, sehr bizarre Reaktionen zeigten. Manche wussten das Alter ihres Vater nicht und einer noch nicht einmal seinen Namen. In meinem Kopf war es selbstverständlich, dass man auch bei getrennten Eltern zumindest die grobe Identität seiner zwei Erzeuger kennen müsste. Das hier kam mir gar nicht als Möglichkeit in den Sinn. Der Lehrer fährt fort, dass wir dadurch die besondere Verantwortung hätten, für sie da zu sein, aber eben auch ein besonderes Privileg. Alles was wir tun müssten, sei sie nicht anzuschreien und nicht zu schlagen und schon seien wir schon ihre Helden, weil wir für viele die beste Begegnung mit einem Erwachsenen seien, die sie täglich hätten.

Eigentlich sollte es Erziehungsverpflichtete heißen. Aber das stimmt wohl nicht, denn man erfährt augenscheinlich keine Konsequenzen, wenn man dieser Pflicht nicht nachkommt.

Ein Mädchen spricht nicht. Weder mit mir oder dem Lehrer im Unterricht, wenn sie etwas gefragt wird, noch mit den anderen in den Pausen. Die Vermutung liegt nahe, dass sie vielleicht noch nicht so gut französisch spricht, weil sie aus einem anderen Land hierhergekommen ist. Doch die pädagogische Assistentin sagt, dass sie letzte Woche noch ganz normal war und überhaupt nicht schüchtern. Sie vermutet, dass irgendetwas vorgefallen ist.
Das Mädchen ist nicht laut oder aggressiv. Sie wirft nicht mit Sachen oder kriegt Heulkrämpfe. Sie sieht noch nicht einmal besonders traurig aus oder hilflos. Aber sie hat ihre Sprache verloren und niemand kriegt auch nur ein Wort aus ihr heraus.
Als ich nachhause komme, ist Selena gerade am Kochen. Oder zumindest rührt sie in einem Topf herum, während sie aus dem Fenster starrt. In ihrer Klasse war das Thema heute auch „Familie“ (vielleicht sollte man das hier einfach nicht behandeln). Ein Junger sagte, dass er zwei Mütter hat. Die beiden sind Freundinnen und haben ihre Familien fusioniert, nachdem die Väter beide abgehauen sind. Die anderen Schüler haben ihn gefragt, warum er so viele Schnitte auf dem Arm hat, aber er wollte nicht darüber reden. Nach der Klasse hat Selena ihm angeboten, zusammen nach Hilfe zu suchen. Der Junge hat nur genickt und ist gegangen. Es ist der erste Nachmittag, an dem ich Selena nicht lächeln sehe.