„Wohnen“ ist relativ

Das Zimmer misst ungefähr 2x3 Meter. Die ursprüngliche Wandfarbe war wohl mal weiß und die Klimaanlage mal in Funktion, als die erste Generation Sprachassistenten hier vor vielen Jahren oder Jahrzehnten Quartier bezog. Die Matratze ist aus einer Art Gummi, was sie glänzen und nach Reifenabrieb riechen lässt. Es gibt ein Tuch, das man als Bettlaken darüber legen kann. Die Nichtexistenz einer Decke gleicht sich aus mit der kaputten Klimaanlage, so werden hier wohl zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Allerdings ist es hier ja erst Frühling und man fragt sich, wie es sich auf die Innentemperatur auswirken mag, wenn es irgendwann draußen nicht mehr 28 sondern 35 Grad haben wird.


Schräg gegenüber wohnt ein Ire mit Korkenzieherlocken und zwei Metern Körpergröße, der sich mir zwar auf Französisch vorstellt, aber glücklicherweise bald auch nicht mehr weiter weiß, weshalb wir uns auf Englisch weiter austauschen. Daneben wohnt ein Mädchen aus Bilbao, das mir ohne Mühe ihre gesamte Lebensgeschichte auf Französisch erzählt, obwohl sie wahrscheinlich weiß, dass ich ihr kaum folgen kann. Das Mädchen, nennen wir sie Selena, ist das komplette Gegenteil von dem Iren; sie ist zierlich, braungebrannt, redet wie ein Wasserfall und schaut einen an, als ob man gerade den interessantesten Satz der Welt gesagt hätte und nicht bloß gefragt, ob sie das alles nochmal wiederholen könnte. Nicht nur kann sie sich fließend mit den Einheimischen unterhalten, sie hat auch noch eine Auto, ist also in jeglicher Hinsicht unsere Verbindung zur Außenwelt.

Die Bolivierin auf der anderen Seite der Wohnung macht das Quartett perfekt. Sie ist noch ein bisschen kleiner, deutlich schüchterner, aber auch sehr hilfsbereit. Sie gibt mir zu verstehen, dass ich für das Essen, das ich gekauft habe, Boxen besorgen muss, wegen der Ratten, die hier wohl seit letztem Jahr hausieren. Kurz darauf zerschlägt sie eine etwa faustgroße Kakerlake mit einem Besen auf dem Fliesenboden und schiebt sie raus, sie ist definitiv die tougheste von uns.


Nach der ersten Nacht ist der Leidensdruck so groß, dass ich den Kleingerätetechniker in mir entdecke. Nachdem alle abnehmbaren Teile entfernt sind, lässt sich durch einiges wahlloses rumdrücken die Klimaanlage tatsächlich reaktivieren, allerdings nicht ohne weiteres wieder abschalten. Eine alte kreolische Weisheit besagt deswegen, dass zehn Grad zu wenig den zehn Grad zu viel definitiv vorzuziehen sind. Man kann immer eine Decke benutzen, die eigene Haut abzuziehen ist dagegen schwieriger. So zumindest Stelle ich mir alte kreolische Weisheiten vor.