Warum „Verkehrsverpuffung“ nicht funktioniert

Ich war bis jetzt, nach eigener Zählung, in 36 Ländern auf vier verschiedenen Kontinenten. Offensichtlich unterscheiden sich viele Dinge von Kultur zu Kultur und es lohnt sich immer, am Anfang zurückhaltend zu analysieren, um sich nicht zu einem vorschnellen Urteil hinreißen zu lassen. Dennoch war die in meiner Beobachtung einzigartige Idee der Réunionaisen, den Standstreifen der Autobahn zum Fahrradweg (mit entsprechenden Markierungen und allem) zu erklären – verwunderlich. Auch bei einem Tempolimit von 110 km/h würde ich nicht freiwillig in einem Abstand von weniger als einem Meter ungeschützt neben einem Fernbus fahren wollen. Außerdem ist dieserorts eine außergewöhnliche Abneigung gegenüber Ampeln zu beobachten. Der Verdacht liegt nahe, dass sich La Réunion fest in der Hand der Kreisverkehrlobby befindet. Auf der sehr durchschnittlichen Landstraße, die meine Stadt mit der vier Kilometer entfernten Autobahn verbindet gibt es drei oder vier von ihnen – und zwar ohne ersichtlichen Grund, da jeder dieser bloß zwei Ausfahrten hat und eine private Einfahrt zu irgendeinem Industriegelände, was man auch durch eine einfach Vorfahrtsregelung lösen hätte können. Das Resultat ist ständiges Abbremsen und Anfahren, was Zeit kostet und den Verbrauch (und damit die entstehenden Emissionen) der Autos steigert. In 50% der Fälle hätte es eine einfache gerade Straße also auch getan, bei der anderen Hälfte wäre man mit einer Ampel wohl besser bedient. Denn wo tatsächlich mal mehrere stark befahrene Straßen aufeinandertreffen, hat der Kreisverkehr einen entscheidenden Nachteil; der Verkehr kommt regelmäßig vollständig zum Erliegen, denn wenn zu viele Autos gleichzeitig einfahren wollen überfüllt er sich. Was wiederum dazu führt, dass keines der Autos wieder aus selbigem abfahren kann, weil jeweils ein anderes Auto vor ihm steht, das eine nochmal andere Ausfahrt nehmen will, vor der aber ein Auto steht, etc. Ein sogenannter Teufelskreis. Zusätzlich verkompliziert wird die Situation durch das Konzept des zweispurigen Kreisverkehrs, denn wenn man auf der zweiten Spur einfährt, heißt das, dass man zwangsläufig irgendwann auf die äußere Spur wechseln muss, gesetzt den Fall, man wolle den Teufelskreis auch irgendwann mal wieder verlassen.
An den Stellen, an denen die zuständigen Behörden es partout nicht geschafft haben, einen Kreisverkehr noch irgendwie unterzubringen, sprenkelt man die Straßen mit Bodenschwellen. Während bei einem Blitzer nur diejenigen bestraft werden, die tatsächlich zu schnell fahren, sind es bei dieser Art von Geschwindigkeitsbegrenzung alle; es ist immer unangenehm, egal welches Tempo man drauf hat. Außerdem sind sie an den unverständlichsten Stellen angebracht. Meine absolute Lieblingsschwelle befindet sich mitten auf einer Autobahnauffahrt. Tatsächlich braucht man bei den sehr steilen Straßen häufig auch ordentlich Schwung um mit einem altersschwachen 2009er Toyota Yaris nicht auf halber Strecke abzusaufen, man gewöhnt sich also mittelfristig daran, jede Fahrt mit ordentlich Rücken- und Nackenschmerzen ob der künstlich ungeebneten Fahrbahn zu beenden. 



Insgesamt ist das französische Überseegebiet ein einziges Mahnmal und zugleich Wegweiser für die deutsche Verkehrspolitik. Aus ihr lässt sich zweierlei lernen.
Erstens: „Verkehrsverpuffung“ funktioniert nicht. Schon das Wort verspricht magisches, nämlich dass der (hiergemeinte) Autoverkehr einfach weggezaubert wird, indem man Straßen sperrt oder das Fahren anderweitig möglichst unattraktiv macht. Doch im Gegenteil; durch das absichtliche Behindern und Verkomplizieren desselbigen, entsteht erst das was man umgangssprachlich als „viel Verkehr“ identifiziert. Nämlich Stau, Hupen und schlechte Laune. Leider findet oft eine sehr naheliegende Verwechslung statt. Denn die Lösung liegt in der Schaffung von Alternativen. Die wenigsten Fahrten machen die Menschen nur so zum Spaß, normalerweise muss man zur Arbeit. Und selbst wenn man hier dann doch einmal in seiner Freizeit an den Strand fahren möchte, dann zeigt die Praxis, dass man, wenn man dort nicht anderweitig hinkommt eben doch bereit ist, sich stundenlang in den Stau zu stellen. Nicht jeder fährt gerne Auto. Im Gegenteil, die meisten Leute, die sich morgens durch den vernebelten Berufsverkehr schieben tun das nur, weil die anderen Optionen noch unattraktiver sind (wenn überhaupt möglich). Wenn man also eine Straße in einen Fahrradweg umwidmet, dann fahren die Menschen vielleicht weniger Auto, weil es endlich einen sicheren Fahrradweg gibt und nicht, weil sie durch eine veränderte Straßenführung plötzlich den Weg nicht mehr zurücklegen müssen. Wirklich Wege verhindern lässt sich nur, indem man Homeoffice macht oder sich den Strand durch die VR-Brille anschaut. Die zwei Optionen sind also entweder, noch mehr Aspekte unseres Lebens vor einen Bildschirm (ob das die Lösung ist?) zu verlagern oder eben andere Verkehrsmittel attraktiver zu machen. Es geht um eine Verlagerung des Verkehrs, nicht um dessen Verschwinden.
Am Ende bleibt es eine Frage der Gesellschaftsphilosophie. Wollen wir das Autofahren so langwierig und anstrengend gestalten, dass der um zwei Stunden verspätete ICE plötzlich gar nicht mehr so schlimm erscheint? Das scheint der jetzige Weg zu sein, gute Nachrichten! – dann bleibt mehr von der einen Billion neu aufgenommenen Schulden um das Rentenloch zu stopfen, oder lässt man die Menschen halbwegs zuverlässig von A nach B kommen, bis man etwas geschaffen hat, dass das Angebot insgesamt verbessert.
Es ist eine sehr fragwürdige Herangehensweise, die einzig gut funktionierende Option künstlich zu verschlechtern, anstatt die politisch gewollte benutzbar zu machen. Aber vielleicht passt das ja auch ganz gut zu uns. Sprache verrät viel über die Mentalität, die im betreffenden Kulturraum vorherrscht. So wie die Franzosen kein Wort für „billig“ haben – für sie ist es das höchste der Gefühle, wenn etwas „nicht teuer“ ist – nutzt man auf Deutsch eben gerne Formulierungen wie „Da kann man nicht meckern“/„sich wirklich nicht beschweren“, so als hoffe man insgeheim doch darauf, dass etwas nicht funktioniert, um endlich wieder etwas zu haben, über das man sich aufregen kann.