Camping

Wenn der Mensch nicht genug Probleme extern aufgezwungen bekommt, schafft er sich eigene. Oft bereut er das im nächsten Moment, aber dann ist es längst zu spät. So auch, als eines Morgens um drei Uhr nachts in einer WG von Sprachassistenten auf einer subtropischen Insel vier Wecker simultan zu klingeln beginnen.
Es geht direkt ins Auto und viele sehr kurvige Straßen hoch ins Gebirge. Am Anfang sieht man noch vereinzelt erschöpfte Partymäuse auf dem Weg nachhause oder Schichtarbeiter in Richtung Arbeit fahren, aber bei jeder Abzweigung werden es weniger.
Der Yaris muss sich schon längst im ersten Gang quälen, als die Sterne blasser werden und sich endlich die kargen Felsen des Gipfels vom tiefen Blau des Himmels abzuheben beginnen. Wir sind da. Zuerst ist es nur ein roter Schimmer, irgendwo weit weg, aber bald beginnen sich immer mehr Linien der bis zum Horizont reichenden Gebirgsketten abzuzeichnen. Ganz hinten lässt sich das Meer erkennen. Die andere Seite der Insel.
Natürlich hätte man auch für den Sonnenuntergang hierher kommen können, aber in unserer WG steht es 3:1 für die Katholiken, also muss man wohl auch mal leiden. Außerdem ist es natürlich ein ganz anderes Gefühl, den Tag auf so brutale Weise beim Anbrechen zu beobachten. Plötzlich geht es ganz schnell, das große Tal wird innerhalb von Sekunden geflutet von Sonnenlicht, das die Hänge heruntergleitet als wäre es flüssig. Selbstverständlich wird der ganze Prozess minutiös in diversen Bildern und Videos festgehalten, das glaubt einem ja schließlich keiner, dass man hier war.
Nachdem es richtig hell ist fahren wir runter an den Strand, wir wollen brunchen. Aber der Rest der Welt lebt nach einem anderen Zeitgefühl, das Café macht erst um 8 Uhr auf, also noch eine Ewigkeit hin, das hatten wir natürlich nicht bedacht. Wir legen uns an den Strand unter eine Palme, wo ich dann auch drei Stunden später mit Sonnenbrand wieder aufwache. Schatten wandern. Nach dem Brunch, das man angesichts der Uhrzeit auch einfach als Frühstück bezeichnen könnte, geht es in die Hauptstadt, um ein Zelt zu suchen. Es steht nämlich großes bevor: Am nächsten Tag fahren wir campen. Die Stimmung ist gut und zumindest wir sind voller Tatendrang. Nicht so der linke Vorderreifen, denn das Auto macht mitten auf einer sehr wenig befahrenen Straße einen Satz und steht dann plötzlich schief. Glücklicherweise gibt es sowas wie einen Ersatzreifen an Bord, auch wenn der wahrscheinlich mal zu einem Dreirad gehört hat und auch das schon viele Jahre her gewesen sein muss. Weniger Glück habe wir mit dem Wagenheber, dem der Hebel um selbigen zu bedienen abhanden gekommen ist. Netz gibt es natürlich auch keins. Die Lage scheint nicht besonders vielversprechend und wir stellen uns darauf ein hier die Nacht zu verbringen, Equipment haben wir ja.
Da tut sich der Himmel auf und ein weißer Jeep steht vor uns. Der Mann darin spricht Fürchtet euch nicht! (oder etwas ähnliches auf Französisch) und im nu ist das Rad in der Luft, die Schrauben gelöst und das „Ersatzrad“ montiert. Jetzt kann uns also nichts mehr stoppen. Frohen Gemüts, und mit ordentlich Schieflage ob des ungleich kleineren Reifens, kommen wir wenig später an der Wiese an, die wir zu unserem Campingplatz auserkoren haben.
Wildcampen ist nicht direkt erlaubt, aber wir und die 20 anderen Sprachassistenten sind überzeugt, dass wir schon niemand anderem unangenehm auffallen werden.
Tatsächlich ist sonst auch während der ganzen Wanderung niemand zu sehen. Der See umringt von Bergen und der obligatorische Wasserfall, der sich einen Hang hinunterstürzt wirken seltsam still, fast wie eine Kulisse oder als ob jemand die Zeit angehalten hätte. Dann wird es dunkel. Und zwar vollständig. Die Sterne wirken absurd hell und es fühlt sich plötzlich so an, als sei die Erde nur ein unwichtiger Nebenschauplatz irgendwo weit am Rand, während die eigentlich relevanten Dinge (was auch immer das sein soll) woanders passieren. Das verleitet den Sprachassistenten aus Ghana und den Kanadier (der nebenbei sein Land gerne von Trump annektieren lassen würde) dazu, eine „philosophische“ Frage nach der anderen zu droppen, die  so wirken als seien sie die Top-Ergebnisse, wenn man nach philosophischen Fragen googelt. Irgendwann kommen sie zu dem Thema, dass sie beide auf keinen Fall wollen, dass ihre künftige Frau erwerbstätig sein werden. Eine Ansicht, die die spanischen Lifestyle-Lesben links von mir so erstmal nicht unkommentiert lassen wollen. Auch beim Thema Scheidung (die Möchtegern-Tates sind natürlich dagegen, dass es dazu die Möglichkeit gibt, weil es dann ja nie „echte Liebe“ gewesen sein kann) kommen beide Parteien nicht wirklich auf einen Nenner. Ich gehe irgendwann schlafen, denn morgen ist ja schließlich ein neuer Tag und irgendjemand muss die beiden zukünftigen Provider für ihre Familien nachhause fahren, denn sie haben natürlich beide keinen Führerschein. Kein leichtes Unterfangen, wenn man die Reifensituation beachtet. Aber das ist eine andere Geschichte.